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NAZIM HIKMET (1902-1963)

Geboren im Jahre 1902 in Saloniki, hat Nâzım Hikmet seine Grundschulausbildung in der Tasmekteb-Schule im Istanbuler Stadtteil Göztepe absolviert und ist nach Abschluss der ersten Stufe des Galatasaray - Gymnasiums im Jahre 1914 auf die Numune-Schule in Nisantasi übergewechselt. Seine Mittelschul-Ausbildung absolvierte er auf der Militärschule in Heybeliada (1918). Zu diesem Schulbesuch leitete ihn der Rektor dieser Schule, Cemal Pasa, an, nachdem er sein im Alter von 12 Jahren verfasstes Gedicht mit dem Titel "Aus dem Munde eines Militärschulabsolventen" vernommen und daran Gefallen gefunden hatte. Nach Abschluss der Militärschule versah Nâzım Hikmet auf dem Kreuzer Hamidiye als Decksoffizier seinen Militärdienst. Nach einer Rippenfellentzündung, die er sich eines Nachts beim Wachdienst holte, war er nicht mehr in der Lage, seine Gesundheit vollständig zurückzugewinnen, so dass er im Jahre 1920 für den Militärdienst als untauglich erklärt, aber unter Beibehaltung seines Grades entlassen wurde.

Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst beschloss Nâzım Hikmet, der Bewegung des Nationalen Widerstandes beizutreten, denn er war über die Besetzung von Istanbul zutiefst betroffen. Nach seiner Niederlassung in Anatolien war er für kurze Zeit im Bolu - Gymnasium als Lehrer tätig (1921). Er befasste sich in dieser Zeit eingehend mit der Revolution in Russland und reiste kurz darauf über Batumi nach Moskau, wo er an der Östlichen Universität Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studierte (1922-1924). Nach seiner Rückkehr in die Heimat arbeitet er für die Zeitschrift "Aufklärung", trat aber eine erneute Russland - Reise an, als er erfuhr, dass wegen der in dieser Zeitschrift erschienenen Gedichte ein Haftbefehl "in Abwesenheit" gegen ihn ausgestellt worden war. Nach Erlass einer Amnestie kehrte er wiederum in die Türkei zurück, wo er jedoch einige Zeit im Gefängnis von Hopa festgehalten wurde (1928).

Später liess sich Nâzım Hikmet in Istanbul nieder und arbeitete für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, daneben auch in den Filmstudios. Er verlegte seine ersten Gedichtbände und schrieb auch mehrere Theaterstücke (1928-1932). Wischenzeitlich wurde er verhaftet, aber nach Erlass einer Amnestie aus Anlass des 10. Jahrestages des Bestehens der Republik wiederum freigelassen. Für die Zeitungen "Abend", "Letzte Nachrichten" und "Tan" war er unter dem Decknamen Orhan Selim als Schreiber von Witzkolumnen und als Chefredakteur tätig (1933).

Mit der Behauptung, er habe unter den Studenten der Militärschule für Landstreitkräfte Propaganda betrieben, wurde er erneut vor Gericht gestellt und vom Militärgericht der Militärschule für Landstreitkräfte zu 15 Jahren, des weiteren nach Vorbringen der Behauptung, er habe auch innerhalb des Flottenverbandes an gewissen Aktivitäten teilgenommen, vom Militärgericht der Seestreitkräfte zu weiteren 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Diese insgesamt 35 Jahre betragende Gefängnisstrafe wurde gemäss den Art. 68 und 77 des türkischen Strafgesetzbuches auf 28 Jahre und 4 Monate herabgesetzt (1938). Nach der Machtergreifung der Demokratischen Partei wurden seitens der Intellektuellen dieses Landes grosse Anstrengungen gezeigt, auch Nâzım Hikmet in den Kreis derjenigen einzubeziehen, die von dem im Jahre 1950 erlassenen Amnestiegesetz profitieren konnten. Auch Juristen unterstützten diese Kampagne; Nâzım Hikmet jedoch begann in dieser Zeit im Gefängnis einen Hungerstreik. Schliesslich wurde ihm die noch verbleibende Gefängnisstrafe erlassen, so dass der Dichter nach 13 Jahren Gefängnis endlich seine Freiheit zurück zu gewinnen in der Lage war.

Nach seiner Freilassung sah sich der 50-jährige, kranke Dichter jedoch in einer schwierigen Situation: es gelang ihm nicht, eine Arbeit aufzunehmen oder auch nur eines seiner Werke zu veröffentlichen, und darüber hinaus wurde der Beschluss gefasst, ihn erneut zum Militärdienst heranzuziehen. Da er um sein Leben fürchtete, nahm er schliesslich den Vorschlag seines Bewunderers Refik Erduran (der spätere berühmte Theaterschriftsteller und Journalist) an und flüchtete sich mit seiner Hilfe auf ein unter rumänischer Flagge fahrendes Schiff, das auf dem Schwarzen Meer kreuzte und ihm auf diese Weise den Weggang aus der Türkei ermöglichte.

Am 3. Juni 1963 ist Nâzım Hikmet in Moskau gestorben.

Schriftsteller-Laufbahn:

Nâzım Hikmet veröffentlichte seine ersten, in Silbenmetrum geschriebener Gedichte in Zeitschriften wie "Neue Zeitschrift", "Die Perle" sowie in den von Ãœmit und Celal Sahir (Erozan) herausgegebenen Bänden unter dem Titel "Erstes Buch", "Zweites Buch" etc. Mit dem Gedicht "Eine Minute" gewann er den von der Zeitung "Alemdar" ausgeschriebenen Dichterwettbewerb (1920). Später veröffentlichte er in Zeitschriften wie "Die Aufklärung", "Der illustrierte Mond", "Bewegung", "Die Illustrierte", "Monatsillustrierte" u.a.; nach Antreten seiner Gefängnisstrafen erschien jedoch für lange Jahre keine Veröffentlichung von ihm. In den 40'er Jahren veröffentlichte er unter den Decknamen Ibrahim Sabri und Mazhar Lütfi einige Gedichte in gesellschaftskritischen Zeitschriften wie "Neue Literatur", "Stimme", "Tag", "Marsch", "Koloss", "Am Anfang" und "Frieden"; bisweilen wurden Gedichte von ihm auch ohne Namensnennung publiziert. Das "Epos des türkischen Freiheitskrieges" erschien als Serie in der Zeitung "Ereignisse" in Izmir (1949). Durch Herausgabe der Zeitschrift "Richtung des Befreiungskrieges" gelang es, Nâzım Hikmet seinen Lesern nahe zu bringen und die eiserne Klammer zu durchbrechen, die über sein Werk verhängt worden war (1965).

Werke:

Gedichtbände: 835 Zeilen (1929); La Joconde und Si-Ya-U (1929); Varan 3 (1930); 1 + 1 = 1 (1930, in Zusammenarbeit mit Nail V.); Die Stadt, die ihre Stimme verloren hat (1931); Warum hat Benerci Selbstmord begangen (1932); Ein nächtliches Telegramm (1932); Briefe an Taranta Babu (1935); Epos von Scheich Bedrettin, dem Sohn des Richters von Simauna (1936); Epos des Befreiungskrieges (1965); Gedichte der 21. und 22. Stunde (1965, gedruckt von Haz. M. Fuat); Ansichten der Menschen meines Heimatlandes (1966-67, gedruckt von Haz. M. Fuat, 5 Bde.); Vierzeiler (1966, gedruckt von Haz. M. Fuat); Aus vier Gefängnissen (1966, gedruckt von Haz. M. Fuat); Neue Gedichte (1966, gedruckt von Haz. Dost-Verlag); Letzte Gedichte (gedruckt von Haz. Habora-Verlag); Gesamtausgabe seiner Werke (1980, gedruckt von Haz. A. Bezirci, 8 Bde.).

Theaterstücke: Schädel (1943); Haus eines Toten (1932); Der vergessene Mensch (1935); Die Kuh (1965); Ferhat und Sirin (1965); Der Idiot (1965); Liebreiz (1966); Joseph und Pharao (1967); Existierte Ivan Ivanowitsch wirklich (1985).

Romane: Das Blut schweigt (1965); Grüne Äpfel (1965); Hey, wie ist das Leben schön (1966).

Abhandlungen: Der Hund heult, aber die Karawane läuft weiter (1936 unter dem Decknamen Orhan Selim); Deutscher Faschismus und Rassenwahn (1936); Nationalstolz (1936); Die Demokratie Russlands (1936).

Briefe: Briefe aus dem Gefängnis an Kemal Tahir (1968); Briefe aus dem Zuchthaus an Memet Fuat (1968); Briefe aus dem Zuchthaus Bursa an Vâ-Nû (1970); Unbekannte Briefe von Nâzım (1986, Briefe an Adalet Cimcoz, gedruckt von S. Kurdakul); Briefe an Piraye (1988).

Märchen: Märchen und Fabeln nach La Fontaine (1949 veröffentlicht unter dem Namen Ahmet Oguz Saruhan); Die geliebte Wolke (1967).

Beispiele aus seinen Werken:

Sein Kunstverständnis:

Nâzım Hikmet, der schon in jungen Jahren anfing, Gedichte zu schreiben, verfasste sein erstes Gedicht am 3. Juli 1913 im Alter von 11 Jahren; der Titel dieses Gedichts lautete: "Hilferuf des Vaterlandes". Dieses Gedicht behandelt die Niederlage im Balkankrieg und das Vordringen der feindlichen Truppen bis Catalca. Asim Bezirci teilt uns mit, dass Nâzım Hikmet in den Jahren 1913-1920 vor allem Gedichte schrieb, die individuelle Themen zum Inhalt hatten; die Behandlung des Themas "Liebe" steht hierbei im Vordergrund, wodurch die Gedichte oftmals einen melancholischen Charakter aufweisen.

Vâ-Nû informiert uns darüber, dass einige der Gedichte aus früher Jugend von Yahya Kemal, der als Lehrer in der Militärschule seinen Dienst tat und der Mutter von Nâzım Hikmet, Celile Hanim, Nahestand, überarbeitet worden waren. Die erste Gedichtveröffentlichung geschah am 3. Oktober 1918 in der "Neuen Zeitschrift" unter dem Decknamen Mehmet Nâzım und trug den Titel "Weinen sie immer noch bei den Zypressen ?". Dieses Gedicht wurde unter gleichem Namen später in der Zeitschrift "Hoffnung" veröffentlicht. Das von Yahya Kemal überarbeitete Gedicht trägt folgenden Wortlaut: ...........

Hier müssen wir eine Anmerkung einstreuen: In den frühen Gedichten von Nâzım Hikmet nehmen Nationalgefühl und Nationalstolz einen bedeutenden Raum ein, bedingt durch den Niedergang und die Niederlagen, die das Osmanische Reich in jener Zeit zu durchleben hatte. Deutliche Beispiele dafür sind "Der Gefangene der 40 Räuber" und "Das verwundete Gespenst". Letzteres Gedicht wurde im Jahre 1920 im Siebten Buch veröffentlicht und beginnt mit den Worten: ........ An einer späteren Stelle des Gedichtes findet sich der Paarreim: .........

Neben seiner Liebe zum Vaterland und der Verbundenheit mit der historischen Vergangenheit dieses Landes, die in diesen Gedichten zum Ausdruck kommen, sehen wir, dass der Dichter hier im Begriff ist, Meisterwerke zu schaffen, in denen die Verwendung der Reimformen auf eine unbeschwerte Weise erfolgt und sich die Hinwendung zu einer reinen, geläuterten Form des Türkischen vollzieht.

Hinwendung zu neuen Gedichtformen:

Nach seiner Niederlassung in Anatolien sah sich Nâzım Hikmet auf der eine Seite mit den Kriegsfolgen, auf der anderen Seite mit alltäglichen Problemen konfrontiert und stand einer Realität gegenüber, deren Ausmass damals nicht zur Gänze verstanden worden war. Er begnügte sich bei der Abfassung seiner Gedichte nicht nur mit Silben- und althergebrachter Metrik, sondern war der Auffassung, dass es nun an der Zeit sei, Wege zu neuen Gedichtformen zu beschreiten: "Ich liess mich in Anatolien nieder. Dort sah ich, wie die Bevölkerung mit uralten Waffen, hungrig und verlaust sich gegen die griechische Armee zu behaupten versuchte. Dabei entdeckte ich die Nation und ihren Krieg. Ich war verwundert, voller Furcht, Liebe und fühlte, dass ich alles dies aufschreiben müsse. Ich fühlte, dass man etwas Neues in Gedichtform, etwas bisher noch nicht auf diese Weise Gesagtes niederschreiben müsse. Hierbei interessierte mich natürlich am meisten das Auffinden neuer Formen, in denen etwas vorher Unbekanntes auf geeignete Weise zum Ausdruck gebracht werden könnte. So fing ich beim Reim an. Reime setzte ich nicht nur ans Ende jedes Verses, sondern mal an den Anfang und mal ans Ende."

In Russland machte sich Nâzım Hikmet eine neue Weltanschauung zu eigen, die seine Einstellung zu Ereignissen und zwischenmenschlichen Beziehungen von Grund auf veränderte. Der Dichter verinnerlichte Prinzipien des Marxismus sowie der Dialektik und des historischen Materialismus. Aber noch gelang es ihm nicht, sich vollständig von der Bindung an die alten Formen zu befreien. Als Beispiel dafür steht das im Jahre 1922 in der Zeitschrift "Neues Leben" veröffentlichtes Gedicht unter dem Titel "Die Bibel", in dem zwar die Religionen kritisiert werden, aber gleichzeitig eine Verinnerlichung stattfindet. Nâzım Hikmet versucht in diesem Gedicht, den Gebrauch der Formen des Silbenmetrums auf ein Mindestmass zurückzuschrauben und sagt selbst, dass er dieses Gedicht in Versen zu jeweils 7 und 14 Silben abgefasst habe: ......

Bekanntschaft mit den Gedichten Mayakovskis:

Bei seiner Suche nach neuen Gedichtformen las Nâzım Hikmet, der sich zu jener Zeit in Batumi aufhielt, in einer Zeitung ein Gedicht von Mayakovski; trotz der Tatsache, dass er des Russischen nicht mächtig war und somit den Inhalt nicht verstehen konnte, war er von der Form dieses Gedichtes fasziniert. Er selbst berichtet über dieses erste, in Blankversen verfasste Gedicht mit dem Titel "Blicke der Hungrigen" folgendes: "Bei der Reise von Batumi nach Moskau fuhren wir durch Landstriche, die von einer Hungersnot heimgesucht worden waren. Was ich dort sah, beeindruckte mich zutiefst. Ich war voller Verwunderung darüber, dass auch diese Hungernot es nicht vermochte, den für die Revolution gezeigten Eifer zu dämpfen. In Moskau angekommen, versuchte ich, unter Verwendung des Silbenmetrums sowie mehrerer seiner Kombinationen ein Gedicht über Hungersnot zu schreiben, aber vergebens. Dann fiel mir das Gedicht ein, das ich zu jener Zeit in Batumi gesehen hatte. Ich war überzeugt davon, dass sich dieses Gedicht nicht durch die französische Form des Blankverses, die ich sehr gut kannte, nachahmen lassen würde, sondern dass es sich dabei um etwas völlig Neues handelte. Ich glaubte fest daran, dass der Dichter selbst durch seine Empfindungen diese Gedanken, sanft dahinfliessend wie die Wogen des Meeres, zu Papier gebracht hatte; im Nachhinein verfasste ich also "Blicke der Hungrigen". Dieses Gedicht ist durch die Verwendung von besonderen Drucktypen und durch seine Anordnung gebrochener Verse etwas völlig anderes, das sich von den bisher dagewesenen Gedichtformen unterscheidet".

Wenn uns auch Nâzım Hikmet in direkter Form die Gründe aufgezeigt hat, die ihn dazu bewogen, diese bei Mayakovski verwendete Gedichtform nachzuahmen, so ist dies doch eine recht zweifelhafte und somit diskutable Angelegenheit. Er informiert uns zwar darüber, dass er die Gedichte von Mayakovski selbst gesehen habe, aber dem ist sehr wahrscheinlich keine tiefere Bedeutung beizumessen. Weiter berichtet er, dass"ich anfänglich nichts von diesen Gedichten verstanden habe, denn meine Kenntnisse des Russischen waren zu der Zeit sehr mangelhaft. Auch jetzt kann ich immer noch nicht behaupten, dass ich sie zur Gänze verstehe. Aber ich habe versucht, den stufenförmig angeordneten Versbau zu wiederholen. Meine Gedichte und die Gedichte Mayakovskis weisen gewisse Berührungspunkte auf: Ãœberwindung des Bruches zwischen 1.) Poesie und Prosa, 2.) zwischen den einzelnen Literaturformen (Lyrik, Satire u.ä.); 3.) benutzen wir beide für unsere Gedichte Ausdrucksformen mit politischem Inhalt. Daneben unterscheiden wir uns aber auch in der Verwendung verschiedener Formen. Mayakovski betrachte ich als meinen Lehrer, aber ich schreibe trotzdem nicht in genau der gleichen Weise, in der er es tut".

In einem an Kemal Tahir gerichteten Brief finden sich interessante Beobachtungen Nâzım Hikmets: "Ich habe jüngst die Gedichte Mayakovskis, die in einem Band gesammelt sind, erhalten und bin gerade dabei, sie zu lesen. Ich muss dir gestehen (das soll aber unter uns bleiben), dass ich erst jetzt richtig in der Lage bin, Mayakovski besser kennen zu lernen. Ausser ein, zwei Gedichten, die ich aus seinem Munde vernommen habe, lese ich das erste Mal seine Gedichte in gedruckter Form. Was seine Ansichten zu Fragen der Kunst betrifft, so kann ich dir mitteilen, dass dies das erste Mal ist, wo ich mich selbst geschätzt und geehrt fühle. Aber es stellt sich auch hier heraus, dass bei Vorliegen gleicher Bedingungen sich die Gedanken in die gleiche Richtung entwickeln. Mayakovski und ich sind in etwa derselben Beschäftigung nachgegangen, wobei er natürlich diese Arbeit in vielerlei Hinsicht besser als ich durchzuführen in der Lage gewesen ist. Aber ich will hier auch nicht allzu bescheiden sein und muss dir daher sagen, dass ich ebenfalls manches auf eine bessere Art und Weise bewerkstelligen konnte. Das ist nun einmal so".

Von der Einstimmigkeit zur Mehrstimmigkeit:

Nach seiner Rückkehr aus Russland in die Türkei führte Nâzım Hikmet in seinem gleich danach veröffentlichten ersten Buch "835 Zeilen" (1929) vor Augen, dass er tatsächlich modernistische Poesieformen entwickelt hatte. Es ist ganz offensichtlich, dass die in diesem Buch vereinten Gedichte unter dem Einfluss der russischen Futuristen bzw. Konstruktivisten standen. In dem "Kunstanschauung" betiteltem Gedicht wird dieser Einfluss sofort spürbar: ..........

Grundsätzliche Besonderheiten futuristischer Kunstrichtungen wie die Bewunderung von Technologie und Fortschritt, Ausschluss der Gefühlswelt, Preisen des städtischen Chaos und der städtischen Enge werden auch im Gedicht "Orchester" dem Leser vor Augen geführt: ...............

Der Stolz auf Maschinen oder, um es mit einem umfassenderen Wort zu sagen, auf die Technik wird besonders im Gedicht "Mechanisierung" zum Ausdruck gebracht: "trrrrrum/trrrrrrum/trrrrrum/trak tiki tak ! / Ich möchte wie eine Maschine/ werden"/ - Dafür werde ich mit Sicherheit eine Lösung finden/denn nur dann kann ich glücklich sein/wenn ich ein Turbinenrad in mir spüre/und aus mir ein Paar Schraubengewinde hervorschauen".

Besonderheiten hinsichtlich der Form der Gedichte Nâzım Hikmets, die in dieser Periode verfasst worden sind, können unter folgenden Gesichtspunkten zusammengefasst werden:

1 - Visuelle Charakteristika: Bei Nâzım Hikmet wurde der traditionelle Aufbau eines Verses vollständigen Veränderungen unterworfen. Die Gedichte zeigen einen stufenförmigen Aufbau. Selbst die einzelnen Worte sind in ihrer Mitte getrennt oder oftmals auf ein einsilbiges Gebilde reduziert worden.

Der Dichter schreibt einzelne Abschnitte seiner Gedichte mit Grossbuchstaben und benutzt verschiedene Schrifttypen und -grössen. Aus diesem Grund kann bereits der Aufbau einer Seite als ein eigenständiges Werk aufgefasst werden. Die einzelnen Worte, Buchstaben und Zeilen verschaffen einer jeden Seite eine unabhängige Existenz. Mehr noch als der Inhalt der Gedichte werden hier Aussehen und Form in den Vordergrund gestellt.

Eines muss besonders betont werden: Nâzım Hikmet benutzt diese visuellen Elemente nicht nur aus purer Lust am Spiel, sondern richtet den Aufbau eines jeden Gedichtes immer gemäss seinem eigentlichen Inhalt aus. Das Literaturverständnis des Dichters lässt sich am besten mit dem schlichten und ungeschmückten Prinzip, nach dem der Inhalt die Form bestimmt, zum Ausdruck bringen. Aus diesem Grund sind die Form des Gedichtes "Mechanisierung" sowie die gewählten Worte eigens auf den hier behandelten Inhalt zugeschnitten, und die Worte "trrrrum", "trak", "tiki tak" zielen darauf ab, die Töne der Maschine einzufangen. Zwischen Nâzım Hikmet und Ercümend Behzat, der auch in einem bestimmten Ausmass die gleichen Methoden verwendete, ist der grösste Unterschied jedoch genau in diesem Punkt festzustellen. Weil Ercümend Behzat es nicht vermag, eine Harmonie zwischen Form und Inhalt in ausreichender Weise herzustellen, bleiben seine Gedichte entweder hinsichtlich der Form oder hinsichtlich des Inhalts stets unbefriedigend. Wie ich auch später noch genauer ausführen werde, gelingt es Nâzım Hikmet, seinen Gedichten eine Richtung zu geben, was bei der von Ercümend Behzat verfassten Poesie nicht gegeben ist. Am Ende der jeweiligen Ausführungen kann nichts Auffindbares festgestellt werden; alles in diesen Gedichten ist stets in geheimnisvollen Kräften gefangen.

2 - Auditative Charakteristika: Wie Nâzım Hikmet selbst betont, sind seine Gedichte aus der Zeit von 1929-1932 im wahrsten Sinne des Wortes orchesterähnliche Gebilde. Länge oder Kürze der Verszeilen, die Art und Weise, Worte zu trennen, die Auswahl der Reime, der Gebrauch von Silben- und Versmass, all das spiegelt den melodischen Aufbau eines vielstimmigen Musikstückes wider. Das "Trauerweide" betitelte Gedicht beginnt mit den Worten: ...............Um den Gegensatz zwischen dem fallenden Reiter und den sich entfernenden Reitern zu betonen, greift Nâzım Hikmet auf die folgende Konstruktion zurück: ...............Die auf das den Tod verkörpernde Wort "Pferd" folgende Verszeile stellt sowohl in auditativer als auch in inhaltlicher Hinsicht in diesem Abschnitt eine vollständige Einheit her.

Hier muss auch gleich daran erinnert werden, dass Nâzım Hikmet auditative und visuelle Elemente stets zusammen gebrauchte mit dem Ziel, die Einheit seines Werkes auf diese Weise hervortreten zu lassen und zwischen den einzelnen Elementen ein Gleichgewicht herzustellen. Schauen wir uns diesen Kunstgriff einmal genauer am Beispiel des Gedichtes "Das Kaspische Meer" an: In diesem Gedicht werden ein versinkendes Boot und der mit den Wellen kämpfende Fischer thematisiert. Dieses Gedicht stellt auch ein erstes, ausgereiftes Beispiel für von Nâzım Hikmet verwandte bestimmte filmische Techniken dar, die dieser in seinem Hauptwerk mit dem Titel "Ansichten der Menschen in meinem Heimatland" gebraucht hatte. Besonders vom Tonfilm war Nâzım Hikmet beeindruckt, denn hier verschmolzen Töne und Bilder zu einem gemeinsamen Ganzen. Ohne dem geringsten Zweifel noch Raum zu lassen, wird dadurch auch der grosse Unterschied zwischen der Position, die Ercümend Behzat eingenommen hat, und der von Nâzım Hikmet hinsichtlich seiner frei verwendeten Formen sowie der audio-visuellen Einflüsse und Möglichkeiten verdeutlicht, ganz gleich, wie die Behauptungen von Ercümend Behzat in diesem Falle auch lauten mögen.

3 - Verschiedene technische Kunstgriffe: Ein aus dem Werk von Nâzım Hikmet übernommenes Zitat besagt, dass "das, was Dichtung von anderen Literaturgattungen wie Roman- und Erzählformen in der Hauptsache unterscheidet, neben der besonderen Form vielmehr im Inhalt, der besonderen Ausstrahlung und Tiefe, der Unterschied des zugrunde gelegten Metrums, im Gebäude von Gedanken und Gefühlen, dem der Dichter hier Raum zu geben wünscht, liegt. (...) Aufbau und Technik einer neuen Dichtung, die als die Dichtung neu erstandener Städte aufgefasst werden kann, sind jetzt noch inniger miteinander verbunden". Nâzım Hikmet war der Auffassung, dass sowohl Dichtung als auch Romanformen sich der gleichen Inhalte annehmen können, dass aber Dichtung am Ende zu einem komplexeren Gebilde führen wird; bezüglich des Aufbaus seiner eigenen Gedichte bemerkt er: "Sie sind sowohl Melodie als auch Harmonie. Sie zeigen sich in gereimter als auch in reimloser Form; ihre Zeilen sind sowohl von ausgesuchter Schönheit als auch ein leeres Nichts. Also sowohl die erste Geige als auch das Orchester. Durch ihre Gesamtheit und Bewegung, mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie der dort abgebildeten Realität, in der sich der tätige Mensch in seiner inneren und äusseren Welt reflektiert, stellen sie passende dynamische Formen und Metren dar, die für eine dieses zum Ausdruck bringende Poesie vonnöten sind".

Wie wir sehen, hegt Nâzım Hikmet die Absicht, die Realität in ihrer vergangenen, jetzigen und zukünftigen Dimension widerzugeben. Schon bei seinen Frühwerken hat er von der Anwendung verschiedener Techniken reichlichen Gebrauch gemacht, d.h. von der Verbindung zwischen Poesie und Prosa, Theaterstück und Filmszene, dem Handlungsgerüst von Romanen etc. Im Gedicht "La Joconde und Si-Ya-U" hat der Dichter die einzelnen Abschnitte mit solchen Untertiteln wie "Radionachrichten aus Paris", "Aus den Aufzeichnungen des Redakteurs", "Aus den Aufzeichnungen der Joconde" bezeichnet; im Gedicht "Warum hat Benerci Selbstmord begangen ?" hat er die Dialoge in Prosaform abgefasst.

So etwas war bis zu jenem Zeitpunkt in der türkischen Dichtkunst noch niemals dagewesen und wohl auch für bestimmte Kreise etwas Unvorstellbares. Ahmet Hasim bemerkt zum Gedicht "835 Zeilen": "Der Dichter betrachtet unbeweglich das Blau des Himmels und verleiht seiner Bewunderung auf eine merkwürdige, aber unvergleichlich harmonische Weise Ausdruck, so als ob man die Saiten eines seltsamen Instrumentes anschlüge. Diese Poesieformen hat Nâzım Hikmet nicht selbst entwickelt; z.Z. schreibt man überall auf der Welt Gedichte in einer derartigen Form. Aber Nâzım Hikmet hat diese Form gebraucht und der türkischen Sprache angepasst und konnte somit in die Rolle eines Dichters schlüpfen, der in Ãœbereinstimmung mit den ihn umgebenden Charakteristika seine Position einzunehmen vermag". Yakup Kadri äussert sich in gleicher Weise: "'835 Zeilen' ist die erste Zeile einer Revolution in der türkischen Dichtkunst, ja in der türkischen Sprache überhaupt. Nâzım Hikmet hat alle Regeln der Dichtkunst, alle metrischen Systeme, an die wir seit den Zeiten von Asik Pasa gewöhnt waren, über den Haufen geworfen und in ebensolcher Weise die Grenzen der türkischen Sprache überschritten wie ein Reiter, die erregendsten und seltsamsten Dinge von sich gebend, der auf einem stolzen Pferd mit hoch aufgerichter Mähne dahin galoppiert. Er ist nicht nur als ein literarischer Revolutionär zu betrachten, der in der türkischen Dichtkunst bahnbrechende Neuerungen durchgesetzt hat, sondern als ein Dichter neuen Typs, dem wir so noch niemals begegnet sind".

Selahattin Hilav, der uns mitteilt, dass Nâzım Hikmet mit der Nachahmung der Dichtung russischer Futuristen wie Mayakovski und Klebnikov drei Hauptziele verfolgte, nämlich 1. - diese Dichtung von ihren metaphysischen Abstraktionen zu erlösen und sie in einen Zustand zu versetzen, in dem sie fähig sein würde, die politischen und wirtschaftlichen Realitäten eines zeitgenössischen Lebens zur Sprache zu bringen; 2. - die im allgemeinen anerkannte Wertordnung mit der Festlegung auf einen abgedroschenen Begriff "schön" mit all seinen Zuordnungen, Vorstellungswelten, Empfindungen, Gedanken und Formen aufzugeben; 3. - eine völlig neue Sprache zu schaffen, die sich aus der sie umklammernden starren Verschalung lösen könnte; ist ferner der Ãœberzeugung, dass "Nâzım Hikmet von seiner Ausgangssituation aus betrachtet in indirekter Weise einen Platz innerhalb der künstlerischen und dichterischen Avantgarde-Strömungen des 20. Jahrhunderts einnimmt. In seinem Werk, das uns einen überbordenden Reichtum zeigt, hat sich der Begriff der avantgardistischen Dichtkunst unseres Jahrhunderts einer bestimmten Richtung zugewandt, wobei trotz der Ãœberschreitung von Grenzen und des Bruches von Regeln eine harmonische Einheit des Ganzen zu bemerken ist".

Hauptwerk: Ansichten der Menschen aus meinem Heimatland

Dieses Werk von Nâzım Hikmet, das in 5 Bänden veröffentlicht wurde, stellt den Gipfel seines poetischen Schaffens dar. Nâzım Hikmet, dem es damit gelang, sich von früheren Abhängigkeiten zu befreien, bemerkt in einer Unterhaltung, die gleich im Anschluss an die Veröffentlichung des "Epos von Scheich Bedrettin" mit dem Dichter geführt wurde, dass in diesem Werk fast alle von ihm angestrebten Ziele auch in Erfüllung gegangen sind: "In der Dichtung möchte ich den Zustand eines Realismus zum Ausdruck bringen können, der die Wirklichkeit mit all ihren Verknüpfungen hinsichtlich ihrer vergangenen, jetzigen und zukünftigen Elemente in Bewegung zeigt. Der Realismus vieler meiner Schriften ist aber einseitig. Deswegen haftet ihnen in vielen Fällen ein Hauch von "Propagandaschriften" an. Nicht hinsichtlich einer bestimmten Weltanschauung, sondern hinsichtlich des Ausdruckes und der Ausformung, den diese Weltanschauung in der Kunst erlangen kann, hege ich keine grossen Erwartungen".

Nâzım Hikmet, dem es am Herzen lag, zwischenmenschliche und gesellschaftskritische Ansichten einer bestimmten historischen Periode in der Türkei mit den diese geographischen Charakteristika prägenden Einflüssen zu vereinen, hat sein Hauptwerk in zutreffender Weise nicht als einen Gedichtband bezeichnet und vermittels der Feststellung, dass "ich nun nicht mehr Gedichte verfasse", aufgezeigt, wie sehr der von ihm eingeschlagene neue Weg ihn selbst auch beeinflusst hat. Er, der von sich selbst sagt, dass er die in früheren Werken wie La Joconde, Benerci, Taranta Babu und Bedrettin verfolgte "Dualität von Dichtung und Prosa" schliesslich überwunden habe, bezeichnet sein Meisterwerk als ein Buch, in dem "völlig entgegen gesetzte Elemente wie Dichtung. Prosa, Theater und Filmszenarios" schliesslich zur Vereinigung gelangt seien.

Nâzım Hikmet erklärt die in jenen Jahren abgeschlossenen Vorarbeiten zu diesem facettenreichen, mit unterschiedlichen Zielsetzungen ausgestatteten und vielschichtigen Werk, das alle bisher beachteten Konventionen hinsichtlich Fiktion überschreitet und wie das Werk Aragons "Der Bauer von Paris" innerhalb des surrealen Schrifttums eine tatsächliche Revolution zu vollziehen vermochte, in nachfolgender Weise:

"1) Ich möchte, dass der Leser nach dem Lesen von 12.000 Zeilen das Gefühl haben soll, er habe alle möglichen und unmöglichen Menschentypen während des Lesens angetroffen;
2) ich möchte, dass diese Menschenansammlung dem Leser konkret vermitteln kann, wie sich das soziale Leben in einer bestimmten historischen Periode in der Türkei gestaltet hat, wobei diese Vermittlung mit Hilfe von Bildern, die Menschen unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit in einer bestimmten Periode in der Türkei darstellen, geschehen soll;
3) des weiteren schwebt mir vor, dass der Zustand dieser äusseren, die Türkei umgebenden Welt in einer bestimmten Periode begriffen werden soll;
4) ausserdem möchte ich, dass über Vergangenheit, Heute und Zukunft gründlich nachgedacht wird und dass alles versucht werden soll, um auf diese Fragen eine Antwort zu finden". Es ist offensichtlich, dass eine solche Vorstellung nicht nur mit dichterischen Mitteln oder auf poetischer Ebene zu realisieren ist. Nâzım Hikmet hat auch davor gewarnt, dass dieser Entwurf, zu dessen Realisierung die vielen Facetten der technischen Möglichkeiten umgesetzt werden müssen, trotzdem der Gefahr einer schematischen Darstellung ausgesetzt ist. Im Rahmen eines allumfassenden Plans hat er deswegen die Absicht gehegt, mindestens 300 Personen auf der ersten und zweiten Ebene und "manche von ihnen bis zum Schluss" auf der Bühne agieren zu lassen.

Chronologie:

1902: Am 15. Januar kommt Nâzım Hikmet in Saloniki zur Welt.

1913: Er schreibt sein erstes Gedicht, betitel "Hilferuf des Vaterlandes". Gleichzeitig besucht er die Mittelschule in Galatasaray.

1914: Wirtschaftliche Gründe zwingen ihn, auf die Mittelschule in Nisantasi überzuwechseln.

1917: Besuch der Militärschule.

1918: Erste Veröffentlichung seiner Gedichte. Dieser in der "Neuen Zeitschrift" veröffentlichte erste Gedichtband trägt den Titel "Weinen sie immer noch unter den Zypressen ?"

1920: Aus gesundheitlichen Gründen ist er gezwungen, die Militärschule kurz vor dem Abschluss zu verlassen. Istanbul ist zu jener Zeit besetzt. Mit seinem Freund Vâ-Nû lässt er sich unerkannt in Anatolien nieder. Von der Regierung in Ankara wird er als Lehrer in Bolu eingesetzt.

1921: Über Azerbeydschan tritt er die Reise nach Moskau an und erlebt dort persönlich die ersten Jahre der Revolution. Er studiert Wirtschafts- und Politikwissenschaften und ist in Künstlerkreisen tätig.

1924: Der erste in Moskau veröffentlichte Gedichtband "Der 28. Kanun-i Sani" wird aufgeführt. Am 12. März des gleichen Jahres wird die Aufführung in der "Pravda" lobend erwähnt. Nâzım Hikmet kehrt in die Türkei zurück und nimmt eine Arbeit bei der Zeitschrift "Aufklärung" an.

1925: vor dem Befreiungsgericht in Ankara wird er wegen Mitgliedschaft in einer geheimen Organisa-tion in Abwesenheit zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Er sieht sich deshalb gezwungen, das Land wiederum zu verlassen und geht nach Moskau.

1926: In Wien nimmt er an einer Parteiversammlung teil, welches der Grund für eine spätere Verurteilung sein wird. Mit Inkrafttreten der Türkischen Strafgesetzordnung werden Zuchthaus-strafen wie die über ihn verhängte aufgehoben.

1927: Wegen seiner Beteiligung an der "Wiener Konferenz" wird er vom Strafgericht in Istanbul in Abwesenheit zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt.

1928: Er beantragt seine Rückkehr bei der türkischen Botschaft in Moskau und bittet um die Ausstellung eines Passes. Da er nicht in der Lage ist, eine diesbezügliche Antwort zu erhalten, überschreitet er die Grenze, wird aber in Hopa gefasst und über Istanbul nach Ankara verbracht. Das Strafgericht in Ankara bekräftigt die vorher in Abwesenheit verhängte Verurteilung; er tritt eine dreimonatige Haftstrafe an. Da man ihm aber die im Gefängnis verbrachte Zeit anrechnet, wird er auf freien Fuss gesetzt.

1929: Er arbeitet bei der Zeitschrift "Der illustrierte Mond". Sein erster Gedichtband "835 Zeilen" wird veröffentlicht. Auf diesen Band folgen weitere Veröffentlichungen.

1930: Das "Die Stadt, die ihre Stimme verloren hat" betitelte Gedicht führt zu einer Anklage gegen ihn, die aber vom Kassationsgericht aufgehoben wird.

1931: Weitere Anklagen folgen; ihr Grund ist die Veröffentlichung seiner Werke "1+1=1", "835 Zeilen", "La Joconde und Si-Ya-U", "Die Stadt, die ihre Stimme verloren hat" sowie "Varan 2"; er wird aber von allen Anklagen freigesprochen.

1932: Das Stück "Der Schädel" wird vom Stadttheater Istanbul aufgeführt.

1933: Das Gedicht "Ein nächtliches Telegramm" führt zu einer Anklage gegen ihn, die mit der Verurteilung zu 6 Monaten, 3 Tagen endet. Nachdem sein Vater an den Folgen eines Unfalls gestorben ist, verfasst er das Gedicht "Erfahrungen eines Schriftstellers im Land der Satire". Mit der Begründung, er habe im Gedicht den Vorgesetzten seines Vaters, Süreyya Pasa, beleidigt, wird ein Verfahren gegen ihn eingeleitet. Er wird zu einem Jahr Gefängnis und zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 200 Lira verurteilt. Gleichzeitig wird gegen ihn beim Strafgericht von Bursa Anklage erhoben wegen der "Gründung einer verbotenen Geheimorganisation"; seine Hinrichtung wird beantragt. In diesem Verfahren wird er zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.

1934: Er wird in Übereinstimmung mit der aus Anlass des 10. Jahrestages der Gründung der Republik erlassenen Amnestie freigelassen.

1936: Mit der Behauptung der Gründung und Leitung einer geheimen Organisation wird er vor Gericht gestellt, aber freigesprochen.

1937: Veröffentlichung des "Epos über Bedrettin, Sohn des Richters von Simavne".

1938: Mit der Begründung, er habe Schüler der Militärschule zum Aufstand aufgewiegelt, werden die "Flottenprozesse" gegen ihn eröffnet. In der Folge wird er zu insgesamt 28 Jahren und 4 Monaten Zuchthaus verurteilt.

1941: In Bursa beginnt er sein Hauptwerk "Ansichten der Menschen in meinem Heimatland" zu verfassen.

1943: Der Mithäftlling Orhan Kemal wird freigelassen. Er nimmt Anteil an der Malerei Balabans und kümmert sich um dessen künstlerische Entwicklung.

1944: Erste Anzeichen von Leberfunktions-störungen und Herzkrankheiten treten auf.

1949: Protestschreiben gegen seine ungerechtfertigte Inhaftierung werden verbreitet. Ahmet Emin Yalman lenkt die Aufmerksamkeit auf die ungerechtfertigte Inhaftierung Nâzım Hikmets durch die Veröffentlichung seiner "Tevfik Fikret und Nâzım Hikmet" betitelten Abhandlung in der Zeitung "Das Vaterland".

1950: Im In- und Ausland werden von verschiedenen Institutionen Kampagnen für eine Freilassung Nâzım Hikmets geführt. Da das Parlament noch vor der Verabschiedung eines entsprechenden Amnestiegesetzes seine Legislaturperiode für beendet erklärt hatte, trat Nâzım Hikmet am 8. April des gleichen Jahres in den Hungerstreik. Noch am selben Tag wird er von Bursa nach Istanbul in das Pasakapisi-Gefängnis verlegt. Auf Anraten seiner Anwälte beendet er am 23. April den Hungerstreik vorübergehend. Aufgrund seines schwerkranken Zustandes halten die Ärzte eine dreimonatige Behandlung im Krankenhaus für unumgänglich. Da aber keine Veränderung seines Zustandes zu bemerken ist, tritt er am 2. Mai erneut in den Hungerstreik. Dies ruft in der Öffentlichkeit Reaktionen in grossem Ausmass hervor und führt zur Einrichtung von Unterschriftskampagnen. Eine Zeitschrift mit dem Titel "Nâzım Hikmet" wird veröffentlicht; am 9. Mai treten seine Mutter Celile Hanim, am 10. Mai die Dichter Orhan Veli, Melih Cevdet und Oktay Rifat in den Hungerstreik. Infolge der Wahlen vom 14. Mai hat sich die politische Situation verändert, so dass am 19. Mai der Hungerstreik für einige Zeit ausgesetzt wird. Das im selben Jahr verabschiedete Amnestiegesetz führt zu seiner Freilassung. Am 22. November verkündet das Welt-Friedenskommittee, dass ihm gemeinsam mit Pablo Picasso, Paul Robeson, Wanda Jakubovska und Pablo Neruda die "Internationale Friedensmedaille" verliehen wird. Er selbst kann an der Feier nicht teilnehmen; die für ihn bestimmte Medaille wird von Neruda in Empfang genommen.

1951: Geburt seines Sohnes Memed. Mit 49 Jahren wird er trotz seines schlechten Zustandes zum Militärdienst eingezogen, obwohl die Jahre, die er als Schüler der Militärschule verbracht hatte, dem Gesetz gemäss als Militärdienst angerechnet werden müssten. Da er sein Leben in Gefahr sieht, beschliesst er, das Land zu verlassen. Am 15. August erscheint im Amtsblatt der Kabinettsbeschluss, gemäss dem er "aus der Staatsbürgerschaft entlassen" wurde. Die ihm vom Welt-Friedenskommittee im Jahr davor verliehene "Internationale Friedensmedaille" nimmt er bei einer in Prag abgehaltenen Feierstunde entgegen.

1952: Er reist nach China, muss aber aufgrund einer Erkrankung diese Reise abbrechen. Nach einem Herzinfarkt ist er vier Monate ans Bett gefesselt. Sein weiteres Leben verläuft unter ärztlicher Kontrolle.

1953: Er nimmt an mehreren internationalen Versammlungen teil. Das von ihm geschriebene Theaterstück "Eine Liebesgeschichte" wird in Moskau aufgeführt. Dem folgen Vorstellungen seiner anderen Theaterstücke.

1958: Er reist nach Paris und trifft sich dort mit Literaten und Künstlern, u.a. auch Aragon und Picasso.

1962: Der sowjetische Schriftstellerverband ehrt ihn aus Anlass seines 60. Geburtstages. Im Anschluss an die im Haus der Schriftsteller abgehaltene Feierstunde wird am nächsten Tag im Polytechnischen Museum eine zweite Veranstaltung für sein Publikum durchgeführt. Die Leitung an diesem Abend wird von Ilya Ehrenburg übernommen.

1963: Er reist nach Afrika an den Tangianika-See. Nach seiner Rückkehr nach Moskau beginnt er mit Arbeiten zu dem Gedicht "Feierlichkeiten meines Begräbnisses". Am Morgen des 3. Juni verstirbt er in seinem Haus.